MTK & HCCH | Onlinepublikation 5300 Jahre Schrift |
Universität Heidelberg: Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften & Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH |
Eine kurze Geschichte der GraphologieVersuch der Charakterdeutung und Inspiration für Literaten (1622)von Joana van de Löcht (Germanistik) |
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Titelblatt des Erstdrucks von Camillo Baldis »Trattato Come Da Vna Lettera Missiva Si Conoscano La Natvra, E Qvalità Dello Scrittore. Raccolto da gli scritti del Sig. Camillo Baldi Cittadino Bolognese. E dato alle stampe da Gio. Francesco Grillenzoni«Gedruckt in Carpi bei Girolamo Vaschieri. Exemplar der Staatlichen Bibliothek Passau (S nv/Mg (b) 5). Datierung: 1622. |
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zur AutorinJoana van de Löcht ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg mit Schwerpunkt Frühe Neuzeit. Nach dem Studium der Assyriologie, der Vorderasiatischen Archäologie und der Editionswissenschaft arbeitet sie an einer literaturwissenschaftlichen Dissertation zu den Tagebüchern Ernst Jüngers.
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Der Praxis, offizielle Dokumente mit der eigenhändigen Unterschrift zu versehen, um deren Rechtmäßigkeit zu bestätigen, liegt die Überzeugung zu Grunde, dass die persönliche Schrift, vor allem im eigenen Namenszug, auf das Engste mit dem Individuum verbunden ist. Dieser Gedanke bildet auch die Grundlage für die Graphologie, eine Lehre, welche sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Der Begriff ›Graphologie‹ bezeichnet — so das Grimmsche Wörterbuch — die Wissenschaft von der »Deutung eines Charakters aus der Handschrift« und bildet eine Teildisziplin der Psychologie. Grundannahme der Graphologie ist, dass sich Charaktereigenschaften einer Person an ihrer Handschrift ablesen lassen. Voraussetzung für eine solche Vorstellung ist eine ausgeprägt individuelle Handschrift, die es möglich macht, die Handschrift ihrem Schreiber anhand von eindeutigen Merkmalen zuzuweisen. Es überrascht also nicht, dass die erste Studie, welche eine Verbindung zwischen Handschrift und Charakter des Schreibers postuliert, erst im 17. Jahrhundert erscheint: Camillo Baldi gibt 1622 in seinem Werk »Trattato Come Da Vna Lettera Missiva Si Conoscano La Natvra, E Qvalità Dello Scrittore« seinen Lesern Anhaltspunkte, wie sie anhand der an sie gesandten Briefe Charakter und Gesinnung des Absenders ablesen können. Neben einer Untersuchung des Wortlauts empfangener Briefe bietet er in einem recht kurzen Abschnitt konkrete schriftanalytische Ansätze zur Prüfung des Geschriebenen. Diese haben jedoch wenig mit den Lehrsätzen der Graphologie gemein, welche Ende des 19. Jahrhunderts entsteht. Als Begründer der modernen Graphologie darf der Geistliche Jean-Hippolyte Michon gelten, der in seiner Abhandlung »Le Journal des Autographes« aus dem Jahr 1871 erstmals den Begriff ›Graphologie‹ verwendete. In Anlehnung an die Methodik der damaligen Naturwissenschaften basierten seine Studien auf einer umfangreichen Sammlung von Schriftproben, welche er nach unterschiedlichen Kriterien ordnete. Sein Hauptwerk »Système de graphologie« aus dem Jahr 1875 legte den Grundstein für alle folgenden graphologischen Forschungen. In den Folgejahren wuchs auch in Deutschland das Interesse an der neuen Wissenschaft, die sich in ihrer deutschen Ausformung jedoch bewusst von der französischen absetzte. Eine zentrale Rolle kam hier dem Psychologen und Lebensphilosophen Ludwig Klages zu. Sein Werk »Handschrift und Charakter« aus dem Jahr 1917 erfreute sich zahlreicher Neuauflagen. Neben Klages gelten Rudolf Pophal, Max Pulver und Robert Heiss als Hauptvertreter der Graphologie in Deutschland. Das verstärkte Interesse an der Schriftanalyse Ende des 19. Jahrhunderts entstand parallel zu weiteren Methoden, mit Hilfe derer man den eigenen Charakter und vor allem den des Gegenübers anhand von Kriterienkatalogen meinte beurteilen zu können. Neben der Graphologie sind hier vor allem die Physiognomik, aber auch die Psychoanalyse zu nennen. In Deutschland wurde die Graphologie in den vergangenen Jahrzehnten wissenschaftlich immer randständiger. Zahlreiche Studien verstärkten die Zweifel an der Validität graphologischer Gutachten, so dass die Graphologie heute vor allem in Deutschland als Pseudowissenschaft gebrandmarkt ist. Wirft man jedoch einen Blick auf die Schweiz, Frankreich oder Italien, so fällt auf, dass die Schriftgutachten in diesen Ländern weniger negativ bewertet werden, ja sogar als relevantes Kriterium in Einstellungsverfahren genutzt werden. Zumindest Literaturwissenschaftler sollten in ihr Urteil einbeziehen, dass die Graphologie, in Teilen vielleicht vergleichbar mit der Psychoanalyse, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch diverse bekannte Schriftsteller beeinflusste. Drei kurze Beispiele mögen dies illustrieren: In den »Buddenbrooks« Thomas Manns heißt es über das Schreiben Gotthold Buddenbrooks, eines schwarzen Schafs der Familie: »Selbst in dieser Handschrift schien Abtrünnigkeit und Rebellion zu liegen, denn während die Zeilen der Buddenbrooks sonst winzig, leicht und schräge über das Papier eilten, waren diese Buchstaben hoch, steil, und mit plötzlichem Drucke versehen; viele Wörter waren mit einem raschen, gebogenen Federzug unterstrichen.« Verfolgt man die graphologischen Anspielungen im Roman weiter, so lässt sich der Verfall der Familie auch anhand der Handschriften ihrer Mitglieder nachvollziehen, welche sich immer weiter von der Norm der »winzigen, leicht und schräg über das Papier« eilenden Schrift entfernen. Im Nachlass Thomas Manns finden sich des Weiteren auch zwei graphologische Gutachten seiner Handschrift. Der wachsende Wahnsinn Clarissens in Musils »Mann ohne Eigenschaften« lässt sich an ihrer Handschrift und an den häufig von ihr verwendeten Unterstreichungen verfolgen. Ernst Jünger wählt eine graphologische Kategorie, um seiner Abneigung gegen Hitler Ausdruck zu verleihen: »Merkwürdig, daß die Handschrift von Gastronomen fast immer nach oben gerichtet ist. Die von Kniébolo [gemeint ist Hitler] dagegen ist die am stärksten nach unten zielende, die ich jemals sah«. Dies wertet Jünger als Ausdruck des nihilistischen Wesens Hitlers. Durch diese und weitere Beispiele lässt sich zeigen, dass die Graphologie — wenn auch vielleicht nicht im gleichen Maße wie beispielsweise die Psychoanalyse — im Diskurs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsent war und auch in literarischen Arbeiten rezipiert wurde. In einer breiter aufgestellten Untersuchung wäre zu fragen, welche Charaktereigenschaften in literarischen Werken durch Verweise auf die Handschrift besonders hervorgehoben werden und auch, wie detailgetreu graphologische Lehrsätze in der literarischen Beschreibung rezipiert werden. Aktuelle Versuche, wie zuletzt in der »Zeit«, die Graphologie als Berufsfeld attraktiv zu machen, sind hingegen auf Grund der ungewissen Validität der Ergebnisse eher zu hinterfragen.
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Literatur |
Baldi, Camillo (1625), Trattato come da vna lettera missiva si conoscano la natvra, e qualità dello scrittore (folgt 1. Aufl. Carpi 1622), Mailand. Jünger, Ernst (1949), Strahlungen, Tübingen. Klages, Ludwig (1917), Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriss der graphologischen Technik, Leipzig. Mann, Thomas (1901), Buddenbrooks. Verfall einer Familie, hg. von Eckhard Heftrich, Frankfurt a. M., 2002. Michon, Jean-Hippolyte (1875), Système de graphologie. L’art de connaître les hommes d’après leurs écritures, Paris. Schleufe, Markus (2015), »Was die Schrift über den Charakter verrät«, in: Die Zeit, 10.11.2015 (via zeit.de, abgerufen am 18.5.2017). |
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Weitere Verweise |
Markus Schleufe über Graphologie als Beruf in der ZEIT (via zeit.de). Kurt Kistner in der Süddeutschen Zeitung über Ernst Jüngers Kriegstagebücher und die "Notwendigkeit des Wahnsinns". Online-Index des Deutschen Literaturarchivs Marbach zu Ludwig Klages. Biographische Skizze Ludwig Klages beim Literaturportal Bayern. Thomas Manns "Buddenbrooks" als Erklärvideo, mit Playmobilfiguren nachgestellt. Graphologischer Online-Test in "multiple choice" Form (via graphologies.de). |
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Abbildungshinweis |
Titelbild: Staatliche Bibliothek Passau. |
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Gedruckt in Carpi bei Girolamo Vaschieri. Exemplar der Staatlichen Bibliothek Passau (S nv/Mg (b) 5). Datierung: 1622.
Titelbild: Staatliche Bibliothek Passau.
Der Praxis, offizielle Dokumente mit der eigenhändigen Unterschrift zu versehen, um deren Rechtmäßigkeit zu bestätigen, liegt die Überzeugung zu Grunde, dass die persönliche Schrift, vor allem im eigenen Namenszug, auf das Engste mit dem Individuum verbunden ist. Dieser Gedanke bildet auch die Grundlage für die Graphologie, eine Lehre, welche sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt.
Der Begriff ›Graphologie‹ bezeichnet — so das Grimmsche Wörterbuch — die Wissenschaft von der »Deutung eines Charakters aus der Handschrift« und bildet eine Teildisziplin der Psychologie. Grundannahme der Graphologie ist, dass sich Charaktereigenschaften einer Person an ihrer Handschrift ablesen lassen. Voraussetzung für eine solche Vorstellung ist eine ausgeprägt individuelle Handschrift, die es möglich macht, die Handschrift ihrem Schreiber anhand von eindeutigen Merkmalen zuzuweisen. Es überrascht also nicht, dass die erste Studie, welche eine Verbindung zwischen Handschrift und Charakter des Schreibers postuliert, erst im 17. Jahrhundert erscheint: Camillo Baldi gibt 1622 in seinem Werk »Trattato Come Da Vna Lettera Missiva Si Conoscano La Natvra, E Qvalità Dello Scrittore« seinen Lesern Anhaltspunkte, wie sie anhand der an sie gesandten Briefe Charakter und Gesinnung des Absenders ablesen können. Neben einer Untersuchung des Wortlauts empfangener Briefe bietet er in einem recht kurzen Abschnitt konkrete schriftanalytische Ansätze zur Prüfung des Geschriebenen. Diese haben jedoch wenig mit den Lehrsätzen der Graphologie gemein, welche Ende des 19. Jahrhunderts entsteht.
Als Begründer der modernen Graphologie darf der Geistliche Jean-Hippolyte Michon gelten, der in seiner Abhandlung »Le Journal des Autographes« aus dem Jahr 1871 erstmals den Begriff ›Graphologie‹ verwendete. In Anlehnung an die Methodik der damaligen Naturwissenschaften basierten seine Studien auf einer umfangreichen Sammlung von Schriftproben, welche er nach unterschiedlichen Kriterien ordnete. Sein Hauptwerk »Système de graphologie« aus dem Jahr 1875 legte den Grundstein für alle folgenden graphologischen Forschungen.
In den Folgejahren wuchs auch in Deutschland das Interesse an der neuen Wissenschaft, die sich in ihrer deutschen Ausformung jedoch bewusst von der französischen absetzte. Eine zentrale Rolle kam hier dem Psychologen und Lebensphilosophen Ludwig Klages zu. Sein Werk »Handschrift und Charakter« aus dem Jahr 1917 erfreute sich zahlreicher Neuauflagen. Neben Klages gelten Rudolf Pophal, Max Pulver und Robert Heiss als Hauptvertreter der Graphologie in Deutschland. Das verstärkte Interesse an der Schriftanalyse Ende des 19. Jahrhunderts entstand parallel zu weiteren Methoden, mit Hilfe derer man den eigenen Charakter und vor allem den des Gegenübers anhand von Kriterienkatalogen meinte beurteilen zu können. Neben der Graphologie sind hier vor allem die Physiognomik, aber auch die Psychoanalyse zu nennen.
In Deutschland wurde die Graphologie in den vergangenen Jahrzehnten wissenschaftlich immer randständiger. Zahlreiche Studien verstärkten die Zweifel an der Validität graphologischer Gutachten, so dass die Graphologie heute vor allem in Deutschland als Pseudowissenschaft gebrandmarkt ist. Wirft man jedoch einen Blick auf die Schweiz, Frankreich oder Italien, so fällt auf, dass die Schriftgutachten in diesen Ländern weniger negativ bewertet werden, ja sogar als relevantes Kriterium in Einstellungsverfahren genutzt werden.
Zumindest Literaturwissenschaftler sollten in ihr Urteil einbeziehen, dass die Graphologie, in Teilen vielleicht vergleichbar mit der Psychoanalyse, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch diverse bekannte Schriftsteller beeinflusste. Drei kurze Beispiele mögen dies illustrieren: In den »Buddenbrooks« Thomas Manns heißt es über das Schreiben Gotthold Buddenbrooks, eines schwarzen Schafs der Familie:
»Selbst in dieser Handschrift schien Abtrünnigkeit und Rebellion zu liegen, denn während die Zeilen der Buddenbrooks sonst winzig, leicht und schräge über das Papier eilten, waren diese Buchstaben hoch, steil, und mit plötzlichem Drucke versehen; viele Wörter waren mit einem raschen, gebogenen Federzug unterstrichen.«
(Buddenbrooks, 49)
Verfolgt man die graphologischen Anspielungen im Roman weiter, so lässt sich der Verfall der Familie auch anhand der Handschriften ihrer Mitglieder nachvollziehen, welche sich immer weiter von der Norm der »winzigen, leicht und schräg über das Papier« eilenden Schrift entfernen. Im Nachlass Thomas Manns finden sich des Weiteren auch zwei graphologische Gutachten seiner Handschrift. Der wachsende Wahnsinn Clarissens in Musils »Mann ohne Eigenschaften« lässt sich an ihrer Handschrift und an den häufig von ihr verwendeten Unterstreichungen verfolgen. Ernst Jünger wählt eine graphologische Kategorie, um seiner Abneigung gegen Hitler Ausdruck zu verleihen:
»Merkwürdig, daß die Handschrift von Gastronomen fast immer nach oben gerichtet ist. Die von Kniébolo [gemeint ist Hitler] dagegen ist die am stärksten nach unten zielende, die ich jemals sah«.
(Strahlungen, 342)
Dies wertet Jünger als Ausdruck des nihilistischen Wesens Hitlers.
Durch diese und weitere Beispiele lässt sich zeigen, dass die Graphologie — wenn auch vielleicht nicht im gleichen Maße wie beispielsweise die Psychoanalyse — im Diskurs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsent war und auch in literarischen Arbeiten rezipiert wurde. In einer breiter aufgestellten Untersuchung wäre zu fragen, welche Charaktereigenschaften in literarischen Werken durch Verweise auf die Handschrift besonders hervorgehoben werden und auch, wie detailgetreu graphologische Lehrsätze in der literarischen Beschreibung rezipiert werden. Aktuelle Versuche, wie zuletzt in der »Zeit«, die Graphologie als Berufsfeld attraktiv zu machen, sind hingegen auf Grund der ungewissen Validität der Ergebnisse eher zu hinterfragen.
Joana van de Löcht ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg mit Schwerpunkt Frühe Neuzeit. Nach dem Studium der Assyriologie, der Vorderasiatischen Archäologie und der Editionswissenschaft arbeitet sie an einer literaturwissenschaftlichen Dissertation zu den Tagebüchern Ernst Jüngers.
Baldi, Camillo (1625), Trattato come da vna lettera missiva si conoscano la natvra, e qualità dello scrittore (folgt 1. Aufl. Carpi 1622), Mailand.
Jünger, Ernst (1949), Strahlungen, Tübingen.
Klages, Ludwig (1917), Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriss der graphologischen Technik, Leipzig.
Mann, Thomas (1901), Buddenbrooks. Verfall einer Familie, hg. von Eckhard Heftrich, Frankfurt a. M., 2002.
Michon, Jean-Hippolyte (1875), Système de graphologie. L’art de connaître les hommes d’après leurs écritures, Paris.
Schleufe, Markus (2015), »Was die Schrift über den Charakter verrät«, in: Die Zeit, 10.11.2015 (via zeit.de, abgerufen am 18.5.2017).
Markus Schleufe über Graphologie als Beruf in der ZEIT (via zeit.de).
Kurt Kistner in der Süddeutschen Zeitung über Ernst Jüngers Kriegstagebücher und die "Notwendigkeit des Wahnsinns".
Online-Index des Deutschen Literaturarchivs Marbach zu Ludwig Klages.
Biographische Skizze Ludwig Klages beim Literaturportal Bayern.
Thomas Manns "Buddenbrooks" als Erklärvideo, mit Playmobilfiguren nachgestellt.
Graphologischer Online-Test in "multiple choice" Form (via graphologies.de).