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5300 Jahre Schrift
Universität Heidelberg: Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften
& Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH
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Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Materiale Textkulturen & Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH
 

Das verlorene Buch

Schrift in Gesellschaften ohne Schrift (1912)

von Guido Sprenger (Ethnologie)

 
Schreibheft mit den Zeichen der Khom-Schrift (groß) und ihren phonetischen Entsprechungen im Lao (klein) (Heftformat: A5)

Verfasst von Wangkham Kommadam (1912–1989). Als Erfinder dieser Schrift gilt Ong Kommadam, der Führer einer antikolonialen Heilserwartungsbewegung. Seine Enkelin Phetsada Kommadam besitzt das abgebildete Heft, wahrscheinlich ist sie die letzte lebende Literatin dieser Schrift. Fotografie: G. Sprenger, 2014.

 
zum Autor

Guido Sprenger ist Professor am Institut für Ethnologie der Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören das Hochland Südostasiens, speziell Laos, sowie Mensch-Umwelt-Beziehungen, Gabentausch, Ethnizität und soziale Organisation.

 

Artikel als PDF

Die Abbildung zeigt ein etwa A5-großes Schreibheft unbekannten Alters, in dem Wangkham Kommadam (1912–1989) die Zeichen der Khom-Schrift (groß) mit ihren phonetischen Entsprechungen im Lao (klein) dargestellt hat. Das Heft befindet sich im Besitz von Wangkhams Nichte Phetsada Kommadam in Paksong auf dem Boloven-Plateau im Süden von Laos. Frau Phetsada ist die Enkelin von Ong Kommadam, dem Führer einer antikolonialen Heilserwartungsbewegung und Erfinder dieser Schrift. Sie ist wahrscheinlich die letzte Person, die in der Lage ist, sie zu lesen. Das Foto machte ich während eines Gesprächs mit ihr im Frühjahr 2014.

Ong Kommadams Bewegung war eine der hartnäckigsten Heilserwartungsbewegungen in Laos. Kommadam wurde etwa 1876 als Sohn nicht-buddhistischer Eltern auf dem Boloven-Plateau geboren. 1910 wurde er Anführer der Bewegung des ›heiligen Mannes‹ Ong Keo, der im Auftrag des französischen Befehlshabers ermordet worden war. Diese Bewegung war gemäßigt ethnonationalistisch, wenn auch militant. In Briefen an den laotischen Vizekönig formulierte Kommadam seine Forderungen: Steuern sollten nicht von externen, sondern lokalen Steuereintreibern erhoben werden, das lokale Recht der ethnischen Gruppen galt es anzuerkennen, fremde Gruppen sollten das Boloven-Plateau verlassen. Weder Kolonialregierung noch Königshaus reagierten darauf. 1926 ließ Kommadam sich zum König der Hochlandbewohner krönen. Erst 1936 gelang es seinen Gegnern, ihn in eine Falle zu locken und zu töten.

Wegen der antikolonialen Ausrichtung der Bewegung wird Kommadam von der sozialistischen Regierung von Laos als Nationalheld verehrt. Intern war seine Bewegung jedoch in wachsendem Maße auf religiöse Heilserwartung ausgerichtet. Besonders ab 1932 ließ sich Kommadam als der nächste Buddha feiern — und das, obwohl sich nur wenige Buddhisten seiner Bewegung angeschlossen hatten. Hier zeigt sich die Orientierung der Bewegung an benachbarten Königreichen. Zu dieser Bewegung gehörte auch eine Schrift, mit der die Mon-Khmer-Sprachen des Plateaus aufgezeichnet werden konnten. Wie mir seine Enkelin erzählte, erschienen Schriftzeichen auf Kommadams Rücken an einem Morgen im Jahr 1912, drei Tage nach der Geburt seiner Tochter Wangkham, die das abgebildete Dokument verfasste. Seine Frau schrieb die Schriftzeichen auf, und Kommadam wusste intuitiv, für welche Laute diese standen. Ihr Name, nangsue khom, Khom-Schrift, assoziiert sie mit der Kultur von Angkor, die Khom genannt wird. Dort, so heißt es, habe die Schrift ihren Anfang gehabt, sei dann vergessen worden und erst mit Kommadam zurückgekehrt.

Hier verbinden sich verschiedene charakteristische Motive der Region, in der sich Kommadams Bewegung bildete: Die verlorene Schrift eines verschwundenen Reichs kehrt auf mystische Weise zurück; ein marginalisiertes und unterdrücktes Volk sieht darin das Vorzeichen besserer Zeiten; in der Schrift verbinden sich Kosmos und Gesellschaft, Religion und Herrschaftslegitimation. Das Hochland, zu der das Boloven-Plateau gehört, erstreckt sich von der Annamitischen Bergkette nach Norden und Westen, wo es zwischen China und Südostasien entlangläuft, bis nach Nordost-Indien. Die meisten Gesellschaften dieser Region verfügen über keine eigene Schrift. Die politischen Einheiten sind selten größer als Dörfer, die wichtigste Anbaumethode ist der Wanderfeldbau. Staaten übten hier bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nur eine begrenzte Kontrolle aus und die Beziehungen waren oft zweideutig: Das Hochland fungierte historisch als Pufferzone zwischen Reichen wie China, Nordthailand oder Burma und seine Wälder waren Quelle wertvoller Tier- und Pflanzenspezies. Zugleich galten seine Bewohner als Barbaren, die man skrupellos versklaven konnte. Überdies war es wegen der Unwegsamkeit des Terrains wie auch der dem Wanderfeldbau geschuldeten häufigen Umzüge eine schwierige Aufgabe, das Hochland zu verwalten. Aus der Sicht der dortigen Gemeinwesen jedoch erscheint das eigene Dorf als Zentrum von Ordnung und Fruchtbarkeit. Staaten liegen in den Bereichen jenseits dieses Zentrums und sind mal bedrohlich, mal eine Quelle von Macht.

Der Politologe James Scott, der diese Region mit dem Begriff ›Zomia‹ bezeichnet, argumentiert, dass die Lebensweise der Hochlandbewohner nichts mit Primitivität zu tun habe. Im Gegenteil — Wirtschaft, Sozialorganisation und Weltbild seien perfekt auf ein spezifisches Ziel ausgerichtet: den Staat zu meiden. So entzog man sich dem Zugriff benachbarter Reiche und verhinderte, dass im Hochland selbst Staaten entstanden. Zu diesen Strategien gehört auch die Abwesenheit von Schrift. Schrift ermöglicht es, Befehle und Gesetze dauerhaft zu fixieren. Sie vermag — wenn staatlich gelenkt — die Dynamik der Gesellschaft zu steuern. Schriftlosigkeit hingegen verflacht Hierarchien und ermöglicht rasche Veränderungen — so Scott. Doch gegen diese vieldiskutierte These steht die Tatsache, dass Schrift auf die schriftlosen Gesellschaften eine erhebliche Anziehungskraft ausübt. Diese Gemeinwesen leben nicht isoliert, sondern im Bewusstsein kultureller Diversität — ein gezielt verfolgtes Projekt der Beziehung zu Anderen. Die Anderen jedoch — zumindest jene mit Städten, Tempeln und Armeen — zeichnen sich durch den Besitz von Schrift aus. Schrift ist Legitimation staatlicher und kultureller Souveränität, aber sie bedarf eines kosmologischen Ursprungs. Eine Schrift zu erfinden liegt nicht in der Macht der Lebenden — ihre Quelle sind die Götter und die unsichtbaren Kräfte.

Immer wieder findet sich daher im südostasiatischen Hochland die Vorstellung, das eigene Volk hätte einst eine Schrift besessen, doch sei sie durch Ungeschick oder Ungerechtigkeit abhan­dengekommen. Michael Oppitz hat über hundert Geschichten dieser Art untersucht. Einmal hat ein göttliches Wesen den verschiedenen Völkern der Welt je ihre eigene Schrift gegeben, aber die Hochlandbewohner haben die ihre verloren. Ein anderes Mal wird ihnen ihr Buch — und damit die Herrschaft — vorenthalten oder in betrügerischer Absicht entwendet. Die Wiedererlangung der Schrift — wie in der Bewegung Kommadams — ist daher ein Projekt, in dem Politik und Religion untrennbar verbunden sind. Die Legitimation des Staates ist stets kosmologisch.

 

 
Literatur

Gunn, Geoffrey C. (2003), Rebellion in Laos. Peasant and Politics in a Colonial Backwater (Nachdruck 1990), Bangkok.

Oppitz, Michael (2006), »Die Geschichte von der Verlorenen Schrift«, in: Paideuma 52, 27–50.

Scott, James C. (2009), The Art of not Being Governed. An Anarchist History of Upland Southeast Asia (Yale Agrarian Studies), New Haven / London.

Weitere Verweise

Michael Oppitz Artikel "Die Geschichte von der verlorenen Schrift" (via jstore, enthält eine Überblickskarte und Schriftzeichen-Tafeln)

Abbildungshinweis

Titelbild: Foto: Guido Sprenger.

 
  Wunderhorn Verlag Sonderforschungsbereich Materiale Textkulturen der Deutschen Forschungsgemeinschaft Universität Heidelberg  

Das verlorene Buch

Schrift in Gesellschaften ohne Schrift (1912)

von Guido Sprenger (Ethnologie)

Schreibheft mit den Zeichen der Khom-Schrift (groß) und ihren phonetischen Entsprechungen im Lao (klein) (Heftformat: A5)

Verfasst von Wangkham Kommadam (1912–1989). Als Erfinder dieser Schrift gilt Ong Kommadam, der Führer einer antikolonialen Heilserwartungsbewegung. Seine Enkelin Phetsada Kommadam besitzt das abgebildete Heft, wahrscheinlich ist sie die letzte lebende Literatin dieser Schrift. Fotografie: G. Sprenger, 2014.

Titelbild: Foto: Guido Sprenger.

Die Abbildung zeigt ein etwa A5-großes Schreibheft unbekannten Alters, in dem Wangkham Kommadam (1912–1989) die Zeichen der Khom-Schrift (groß) mit ihren phonetischen Entsprechungen im Lao (klein) dargestellt hat. Das Heft befindet sich im Besitz von Wangkhams Nichte Phetsada Kommadam in Paksong auf dem Boloven-Plateau im Süden von Laos. Frau Phetsada ist die Enkelin von Ong Kommadam, dem Führer einer antikolonialen Heilserwartungsbewegung und Erfinder dieser Schrift. Sie ist wahrscheinlich die letzte Person, die in der Lage ist, sie zu lesen. Das Foto machte ich während eines Gesprächs mit ihr im Frühjahr 2014.

Ong Kommadams Bewegung war eine der hartnäckigsten Heilserwartungsbewegungen in Laos. Kommadam wurde etwa 1876 als Sohn nicht-buddhistischer Eltern auf dem Boloven-Plateau geboren. 1910 wurde er Anführer der Bewegung des ›heiligen Mannes‹ Ong Keo, der im Auftrag des französischen Befehlshabers ermordet worden war. Diese Bewegung war gemäßigt ethnonationalistisch, wenn auch militant. In Briefen an den laotischen Vizekönig formulierte Kommadam seine Forderungen: Steuern sollten nicht von externen, sondern lokalen Steuereintreibern erhoben werden, das lokale Recht der ethnischen Gruppen galt es anzuerkennen, fremde Gruppen sollten das Boloven-Plateau verlassen. Weder Kolonialregierung noch Königshaus reagierten darauf. 1926 ließ Kommadam sich zum König der Hochlandbewohner krönen. Erst 1936 gelang es seinen Gegnern, ihn in eine Falle zu locken und zu töten.

Wegen der antikolonialen Ausrichtung der Bewegung wird Kommadam von der sozialistischen Regierung von Laos als Nationalheld verehrt. Intern war seine Bewegung jedoch in wachsendem Maße auf religiöse Heilserwartung ausgerichtet. Besonders ab 1932 ließ sich Kommadam als der nächste Buddha feiern — und das, obwohl sich nur wenige Buddhisten seiner Bewegung angeschlossen hatten. Hier zeigt sich die Orientierung der Bewegung an benachbarten Königreichen. Zu dieser Bewegung gehörte auch eine Schrift, mit der die Mon-Khmer-Sprachen des Plateaus aufgezeichnet werden konnten. Wie mir seine Enkelin erzählte, erschienen Schriftzeichen auf Kommadams Rücken an einem Morgen im Jahr 1912, drei Tage nach der Geburt seiner Tochter Wangkham, die das abgebildete Dokument verfasste. Seine Frau schrieb die Schriftzeichen auf, und Kommadam wusste intuitiv, für welche Laute diese standen. Ihr Name, nangsue khom, Khom-Schrift, assoziiert sie mit der Kultur von Angkor, die Khom genannt wird. Dort, so heißt es, habe die Schrift ihren Anfang gehabt, sei dann vergessen worden und erst mit Kommadam zurückgekehrt.

Hier verbinden sich verschiedene charakteristische Motive der Region, in der sich Kommadams Bewegung bildete: Die verlorene Schrift eines verschwundenen Reichs kehrt auf mystische Weise zurück; ein marginalisiertes und unterdrücktes Volk sieht darin das Vorzeichen besserer Zeiten; in der Schrift verbinden sich Kosmos und Gesellschaft, Religion und Herrschaftslegitimation. Das Hochland, zu der das Boloven-Plateau gehört, erstreckt sich von der Annamitischen Bergkette nach Norden und Westen, wo es zwischen China und Südostasien entlangläuft, bis nach Nordost-Indien. Die meisten Gesellschaften dieser Region verfügen über keine eigene Schrift. Die politischen Einheiten sind selten größer als Dörfer, die wichtigste Anbaumethode ist der Wanderfeldbau. Staaten übten hier bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nur eine begrenzte Kontrolle aus und die Beziehungen waren oft zweideutig: Das Hochland fungierte historisch als Pufferzone zwischen Reichen wie China, Nordthailand oder Burma und seine Wälder waren Quelle wertvoller Tier- und Pflanzenspezies. Zugleich galten seine Bewohner als Barbaren, die man skrupellos versklaven konnte. Überdies war es wegen der Unwegsamkeit des Terrains wie auch der dem Wanderfeldbau geschuldeten häufigen Umzüge eine schwierige Aufgabe, das Hochland zu verwalten. Aus der Sicht der dortigen Gemeinwesen jedoch erscheint das eigene Dorf als Zentrum von Ordnung und Fruchtbarkeit. Staaten liegen in den Bereichen jenseits dieses Zentrums und sind mal bedrohlich, mal eine Quelle von Macht.

Der Politologe James Scott, der diese Region mit dem Begriff ›Zomia‹ bezeichnet, argumentiert, dass die Lebensweise der Hochlandbewohner nichts mit Primitivität zu tun habe. Im Gegenteil — Wirtschaft, Sozialorganisation und Weltbild seien perfekt auf ein spezifisches Ziel ausgerichtet: den Staat zu meiden. So entzog man sich dem Zugriff benachbarter Reiche und verhinderte, dass im Hochland selbst Staaten entstanden. Zu diesen Strategien gehört auch die Abwesenheit von Schrift. Schrift ermöglicht es, Befehle und Gesetze dauerhaft zu fixieren. Sie vermag — wenn staatlich gelenkt — die Dynamik der Gesellschaft zu steuern. Schriftlosigkeit hingegen verflacht Hierarchien und ermöglicht rasche Veränderungen — so Scott. Doch gegen diese vieldiskutierte These steht die Tatsache, dass Schrift auf die schriftlosen Gesellschaften eine erhebliche Anziehungskraft ausübt. Diese Gemeinwesen leben nicht isoliert, sondern im Bewusstsein kultureller Diversität — ein gezielt verfolgtes Projekt der Beziehung zu Anderen. Die Anderen jedoch — zumindest jene mit Städten, Tempeln und Armeen — zeichnen sich durch den Besitz von Schrift aus. Schrift ist Legitimation staatlicher und kultureller Souveränität, aber sie bedarf eines kosmologischen Ursprungs. Eine Schrift zu erfinden liegt nicht in der Macht der Lebenden — ihre Quelle sind die Götter und die unsichtbaren Kräfte.

Immer wieder findet sich daher im südostasiatischen Hochland die Vorstellung, das eigene Volk hätte einst eine Schrift besessen, doch sei sie durch Ungeschick oder Ungerechtigkeit abhan­dengekommen. Michael Oppitz hat über hundert Geschichten dieser Art untersucht. Einmal hat ein göttliches Wesen den verschiedenen Völkern der Welt je ihre eigene Schrift gegeben, aber die Hochlandbewohner haben die ihre verloren. Ein anderes Mal wird ihnen ihr Buch — und damit die Herrschaft — vorenthalten oder in betrügerischer Absicht entwendet. Die Wiedererlangung der Schrift — wie in der Bewegung Kommadams — ist daher ein Projekt, in dem Politik und Religion untrennbar verbunden sind. Die Legitimation des Staates ist stets kosmologisch.

Artikel als PDF

zum Autor

Guido Sprenger ist Professor am Institut für Ethnologie der Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören das Hochland Südostasiens, speziell Laos, sowie Mensch-Umwelt-Beziehungen, Gabentausch, Ethnizität und soziale Organisation.

Literatur

Gunn, Geoffrey C. (2003), Rebellion in Laos. Peasant and Politics in a Colonial Backwater (Nachdruck 1990), Bangkok.

Oppitz, Michael (2006), »Die Geschichte von der Verlorenen Schrift«, in: Paideuma 52, 27–50.

Scott, James C. (2009), The Art of not Being Governed. An Anarchist History of Upland Southeast Asia (Yale Agrarian Studies), New Haven / London.

Weitere Verweise

Michael Oppitz Artikel "Die Geschichte von der verlorenen Schrift" (via jstore, enthält eine Überblickskarte und Schriftzeichen-Tafeln)