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5300 Jahre Schrift
Universität Heidelberg: Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften
& Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH
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Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Materiale Textkulturen & Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH
 

»Und Gott wird Dich belohnen«

Alltägliche Texte auf Birkenrinden im mittelalterlichen Russland (um 1330/40)

von Julia Lougovaya  (Alte Geschichte)

 
Birkenrinde mit Beschriftung

(Höhe: 6,6 cm, Breite: 19,7 cm); die Schrift wurde mit einem beinernen Griffel eingeritzt. Brief des Beamten Filix an Sjemen und Jurgij. Gefunden in Nowgorod (Russland). Heute im Staatlichen Museumsreservat Nowgorod (Gramota 414). Datierung: um 1330/40.

 
zur Autorin

Julia Lougovaya leitet das Teilprojekt A09 »Schreiben auf Ostraka im inneren und äußeren Mittelmeerraum« des SFB 933. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Alltagstexte aus dem antiken Mittelmeerraum sowie griechische Steininschriften.

 

Artikel als PDF

Die Stadt Nowgorod befindet sich im Nordwesten Russlands — in dem Bereich, durch den der Weg von den Warägern, skandinavischen Händlern und Kriegern, in das byzantinische Reich führte. Erstmals im Jahr 859 erwähnt, war Nowgorod ein bedeutendes Zentrum der ›Kiewer Rus‹, eines mittelalterlichen Großreichs, mit etwa 10.000 Bewohnern und einer blühenden Wirtschaft. Unter Wladimir I. (um 960–1015 n. Chr.) wurde das Christentum in der Region eingeführt, bald darauf die ersten Kirchen in Nowgorod errichtet sowie christliches Schrifttum verbreitet. Lange wurde angenommen, dass die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben ein Privileg der Geistlichen und Adligen war, da nur sie die altostslawische Buchsprache — die Schriftsprache des gesamten Reichs von Kiew — beherrschten. Die Entdeckung einer außergewöhnlichen Objektgruppe im Jahr 1951 hat diese Annahme jedoch in Frage gestellt und gezeigt, dass die Alphabetisierungsrate außerhalb der Kirche deutlicher höher war als bislang vermutet. Im Boden Nowgorods wurde nämlich eine Vielzahl von Texten auf Birkenrinden gefunden, die im altnowgoroder Dialekt beschrieben sind.

Das Tiefland um den Ilmensee, an dem Nowgorod liegt, bietet besonders gute Voraussetzungen für die Konservierung vergänglicher Materialien. Dies liegt in der Kombination von hohem Grundwasserniveau und einem lehmigen Boden begründet, die dazu führt, dass die Erde in den kulturbergenden Schichten wassergesättigt war. Unter solch anaeroben Bedingungen (also in einer Umgebung ohne Sauerstoff) erhalten sich organische Stoffe — vor allem Holz — sehr gut. Aufgrund dieser geologischen Umstände gab es in Nowgorod zudem eine besondere Art des Straßenbaus: Wege wurden einfach mit Holzplanken bedeckt, so dass man über den schlammigen Untergrund laufen oder fahren konnte. Diese ›Pflasterung‹ nutzte sich jedoch rasch ab, so dass neue Laufhorizonte angelegt werden mussten. Die auf Birkenrinde geschriebenen Notizen wurden wohl zusammen mit anderem Müll auf die Straße geworfen und blieben so innerhalb der Schichten des Straßenpflasters erhalten. Bis heute wurden mehr als 1000 dieser beschriebenen Birkenrinden in Nowgorod gefunden, die aus der Zeit zwischen dem 11. und dem 15. Jahrhundert stammen. Sie sind normalerweise 15 bis 40 cm breit und 2 bis 8 cm hoch. Die Schrift wurde auf der inneren Seite der Rinde mit einem scharfen, beinernen Griffel eingeritzt. Die im kyrillischen Alphabet geschriebenen Texte bezeichnen sich selbst als ›Gramota‹ — abgeleitet von dem altgriechischen Wort für Buchstaben (grammata), was auch jede Art von Urkunde bedeuten kann. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Alltagstexte. Unter diesen bilden Privatbriefe den größten Anteil. Die Briefe enthalten oft Anordnungen, Bitten oder Klagen und sind so knapp gefasst, dass ein moderner Herausgeber sie mit den heutigen SMS verglichen hat. Der in der Abbildung präsentierte Text bietet hierfür ein gutes Beispiel (Gramota Nr. 414):

»Gruß von Filix an Sjemen und Jurgij. Hoffnung auf Gott und auf Euch. Wenn es irgendeinen Gewinn im Gewicht gibt, lege es in die Kirche. Und wenn meine Frau etwas nötig hat, dann gib Du, Bruder Sjemen, es meiner Frau. Ich verbeuge mich tief vor Dir.«

Filix war ein Gutsbesitzer und Beamter. Sein beschriftetes Siegel wurde in einem ausgegrabenen Landgut gefunden. Derselbe Mann taucht in einer Vereinbarung zwischen den Abgeordneten der Städte Lübeck und Nowgorod auf, deren deutsche, auf Pergament geschriebene Version erhalten geblieben ist: Im Mai 1338 schlossen die Gesandten in Derpt, dem heutigen Tartu in Estland, ein Abkommen, das den Kaufleuten Sicherheit und Freiheit gewähren sollte, nachdem es zu mehreren Verbrechen an ihnen gekommen war. Auch zu Hause musste sich Filix mit Delikten ähnlicher Art beschäftigen. Es liegt hierzu ein Brief einer Frau vor, in dem sie ihn um eine Hilfeleistung gegen ihren Stiefsohn, der sie geschlagen habe, bittet. Solche Bitten um Unterstützung bei Gewalt in der Familie waren durchaus üblich (Gramota Nr. 415):

»Gruß von Fovronija an Filix. Der Stiefsohn hat mich geschlagen und aus dem Haus gestoßen. Befiehlst Du mir, in die Stadt zu fahren? Sonst komm Du hierher. Ich wurde grün und blau geschlagen.«

Nicht selten wurden mehrere Urkunden, die sich an dieselbe Person richteten und somit eine Art Archiv bildeten, zusammen gefunden. Eines von diesen bezieht sich auf den Ikonen-Maler Olisij Gretschin, also ›Olisij den Griechen‹. Es lässt sich in das 12. Jahrhundert, die Hochzeit der Nowgoroder Kunst, datieren und erhält unter anderem eine Bitte an Olisij, zwei kleine Ikonen anzufertigen (Gramota Nr. 549):

»Gruß vom Popen an Gretschin. Male Du für mich zwei sechsflügelige Engel auf zwei kleinen Ikonen, um sie oberhalb der Deësis [ein Bildmotiv der christlichen Ikonographie, das Jesus Christus, die Gottesmutter und Johannes den Täufer zeigt] aufzustellen. Ich grüße Dich. Und Gott wird Dich belohnen – oder wir werden uns einigen.«

Der Fund von Olisijs Briefen ermöglichte es den Archäologen außerdem, die Werkstatt des Malers in Nowgorod zu identifizieren.

Die Birkenrinden haben ferner unser Wissen um die Ausbildung von Kindern im mittelalterlichen Nowgorod erweitert. So liegt ein interessantes Bündel von Birkenzetteln vor, das einem Jungen namens Onfim gehörte. Er übte das Alphabet und die Silben; wenn ihm hingegen langweilig wurde, dann zeichnete er. Auf einer Birkenrinde hat der Junge etwa begonnen, das Alphabet auszuschreiben — dann hörte er jedoch auf, um ein Selbstporträt einzuritzen. Onfims Übungen belegen, dass nach einem Curriculum unterrichtet wurde, das ursprünglich aus dem griechischen Raum nach Nowgorod gekommen war.

Nach der Christianisierung der Kiewer Rus im Jahr 988 wurden in altostslawischer Sprache geschriebene christliche Bücher rasch verbreitet. Zwei bedeutende Fürsten der Kiewer Rus, Wladimir I. der Heilige und sein Sohn Jaroslaw der Weise, haben intensiv daran mitgewirkt, die Bevölkerung zu alphabetisieren. In Kiew beorderte Wladimir die Kinder der führenden Familien zu sich, um bei ihnen für eine Ausbildung in der ›Bücherweisheit‹ zu sorgen. Die Mütter dieser Kinder — so berichtet es eine Chronik — weinten und trauerten um sie wie um Verstorbene. Aber im Jahr 1030, als Jaroslaw nach Nowgorod zu Besuch kam, fand das Vorhaben größeren Anklang. Er ordnete an, dass 300 Kinder der Oberschicht sowie Popen (orthodoxe Priester) in der ›Bücherweisheit‹ ausgebildet werden sollten. Exakt in diese Zeit sind die ersten beschrifteten Birkenrinden zu datieren. Jaroslaws Idee, die Kinder seines Herrschaftsgebiets gleichsam einzuschulen, hat offenbar funktioniert!

 

 
Literatur

Gippius, Alexei A. (2012), »Birchbark Literacy and the Rise of Written Communication in Early Rus’«, in: Kristel Zilmer (Hg.), Epigraphic Literacy and Christian Identity: Modes of Written Discourse in the Newly Christian European North (Utrecht Studies in Medieval Literacy 4), 225–250.

Janin, Valentin L. (1995), »Novgoroder Birkenrindenurkunden«, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 41, 211–237.

Kempgen, Sebastian (2006), »Boris an Anastasija: Schick’ mir ein Unterhemd. Ein textlinguistisch-pragmatischer Zugang zu den Birkenrinden Nr. 43 und 49«, in: Bernhard Symanzik (Hg.), Studia Philologica Slavica (Festschrift für Gerhard Birkfellner zum 65. Geburtstag, Teilbd. 1), Berlin, 283–300.

Weitere Verweise

Datenbank publizierter Birkenrinden mit Bildern und Literatur (auf Russisch).

Foliensatz des Vortrags der Verfasserin während der Akademischen Mittagspause 2015 (via academia.edu).

Paul W. Goldschmidt stellt die Zeichnungen des Jungen Onfim vor (unter Pseudonym: Paul Wickenden of Thanet, Society for Creative Anachronism).

Berichte in der New York Times und der Neuen Züricher Zeitung.

Erklärvideo zur Geschichte der Kiever Rus (via khanacademy.com).

Knappe Beschreibung des Altostslawischen von der Universität Klagenfurt.

Das Kyrillische Alphabeth (mit Anfängersprachkurs online).

Abbildungshinweis

Titelbild: Foto courtesy V. L. Janin.

 
  Wunderhorn Verlag Sonderforschungsbereich Materiale Textkulturen der Deutschen Forschungsgemeinschaft Universität Heidelberg  

»Und Gott wird Dich belohnen«

Alltägliche Texte auf Birkenrinden im mittelalterlichen Russland (um 1330/40)

von Julia Lougovaya  (Alte Geschichte)

Birkenrinde mit Beschriftung

(Höhe: 6,6 cm, Breite: 19,7 cm); die Schrift wurde mit einem beinernen Griffel eingeritzt. Brief des Beamten Filix an Sjemen und Jurgij. Gefunden in Nowgorod (Russland). Heute im Staatlichen Museumsreservat Nowgorod (Gramota 414). Datierung: um 1330/40.

Titelbild: Foto courtesy V. L. Janin.

Die Stadt Nowgorod befindet sich im Nordwesten Russlands — in dem Bereich, durch den der Weg von den Warägern, skandinavischen Händlern und Kriegern, in das byzantinische Reich führte. Erstmals im Jahr 859 erwähnt, war Nowgorod ein bedeutendes Zentrum der ›Kiewer Rus‹, eines mittelalterlichen Großreichs, mit etwa 10.000 Bewohnern und einer blühenden Wirtschaft. Unter Wladimir I. (um 960–1015 n. Chr.) wurde das Christentum in der Region eingeführt, bald darauf die ersten Kirchen in Nowgorod errichtet sowie christliches Schrifttum verbreitet. Lange wurde angenommen, dass die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben ein Privileg der Geistlichen und Adligen war, da nur sie die altostslawische Buchsprache — die Schriftsprache des gesamten Reichs von Kiew — beherrschten. Die Entdeckung einer außergewöhnlichen Objektgruppe im Jahr 1951 hat diese Annahme jedoch in Frage gestellt und gezeigt, dass die Alphabetisierungsrate außerhalb der Kirche deutlicher höher war als bislang vermutet. Im Boden Nowgorods wurde nämlich eine Vielzahl von Texten auf Birkenrinden gefunden, die im altnowgoroder Dialekt beschrieben sind.

Das Tiefland um den Ilmensee, an dem Nowgorod liegt, bietet besonders gute Voraussetzungen für die Konservierung vergänglicher Materialien. Dies liegt in der Kombination von hohem Grundwasserniveau und einem lehmigen Boden begründet, die dazu führt, dass die Erde in den kulturbergenden Schichten wassergesättigt war. Unter solch anaeroben Bedingungen (also in einer Umgebung ohne Sauerstoff) erhalten sich organische Stoffe — vor allem Holz — sehr gut. Aufgrund dieser geologischen Umstände gab es in Nowgorod zudem eine besondere Art des Straßenbaus: Wege wurden einfach mit Holzplanken bedeckt, so dass man über den schlammigen Untergrund laufen oder fahren konnte. Diese ›Pflasterung‹ nutzte sich jedoch rasch ab, so dass neue Laufhorizonte angelegt werden mussten. Die auf Birkenrinde geschriebenen Notizen wurden wohl zusammen mit anderem Müll auf die Straße geworfen und blieben so innerhalb der Schichten des Straßenpflasters erhalten. Bis heute wurden mehr als 1000 dieser beschriebenen Birkenrinden in Nowgorod gefunden, die aus der Zeit zwischen dem 11. und dem 15. Jahrhundert stammen. Sie sind normalerweise 15 bis 40 cm breit und 2 bis 8 cm hoch. Die Schrift wurde auf der inneren Seite der Rinde mit einem scharfen, beinernen Griffel eingeritzt. Die im kyrillischen Alphabet geschriebenen Texte bezeichnen sich selbst als ›Gramota‹ — abgeleitet von dem altgriechischen Wort für Buchstaben (grammata), was auch jede Art von Urkunde bedeuten kann. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Alltagstexte. Unter diesen bilden Privatbriefe den größten Anteil. Die Briefe enthalten oft Anordnungen, Bitten oder Klagen und sind so knapp gefasst, dass ein moderner Herausgeber sie mit den heutigen SMS verglichen hat. Der in der Abbildung präsentierte Text bietet hierfür ein gutes Beispiel (Gramota Nr. 414):

»Gruß von Filix an Sjemen und Jurgij. Hoffnung auf Gott und auf Euch. Wenn es irgendeinen Gewinn im Gewicht gibt, lege es in die Kirche. Und wenn meine Frau etwas nötig hat, dann gib Du, Bruder Sjemen, es meiner Frau. Ich verbeuge mich tief vor Dir.«

Filix war ein Gutsbesitzer und Beamter. Sein beschriftetes Siegel wurde in einem ausgegrabenen Landgut gefunden. Derselbe Mann taucht in einer Vereinbarung zwischen den Abgeordneten der Städte Lübeck und Nowgorod auf, deren deutsche, auf Pergament geschriebene Version erhalten geblieben ist: Im Mai 1338 schlossen die Gesandten in Derpt, dem heutigen Tartu in Estland, ein Abkommen, das den Kaufleuten Sicherheit und Freiheit gewähren sollte, nachdem es zu mehreren Verbrechen an ihnen gekommen war. Auch zu Hause musste sich Filix mit Delikten ähnlicher Art beschäftigen. Es liegt hierzu ein Brief einer Frau vor, in dem sie ihn um eine Hilfeleistung gegen ihren Stiefsohn, der sie geschlagen habe, bittet. Solche Bitten um Unterstützung bei Gewalt in der Familie waren durchaus üblich (Gramota Nr. 415):

»Gruß von Fovronija an Filix. Der Stiefsohn hat mich geschlagen und aus dem Haus gestoßen. Befiehlst Du mir, in die Stadt zu fahren? Sonst komm Du hierher. Ich wurde grün und blau geschlagen.«

Nicht selten wurden mehrere Urkunden, die sich an dieselbe Person richteten und somit eine Art Archiv bildeten, zusammen gefunden. Eines von diesen bezieht sich auf den Ikonen-Maler Olisij Gretschin, also ›Olisij den Griechen‹. Es lässt sich in das 12. Jahrhundert, die Hochzeit der Nowgoroder Kunst, datieren und erhält unter anderem eine Bitte an Olisij, zwei kleine Ikonen anzufertigen (Gramota Nr. 549):

»Gruß vom Popen an Gretschin. Male Du für mich zwei sechsflügelige Engel auf zwei kleinen Ikonen, um sie oberhalb der Deësis [ein Bildmotiv der christlichen Ikonographie, das Jesus Christus, die Gottesmutter und Johannes den Täufer zeigt] aufzustellen. Ich grüße Dich. Und Gott wird Dich belohnen – oder wir werden uns einigen.«

Der Fund von Olisijs Briefen ermöglichte es den Archäologen außerdem, die Werkstatt des Malers in Nowgorod zu identifizieren.

Die Birkenrinden haben ferner unser Wissen um die Ausbildung von Kindern im mittelalterlichen Nowgorod erweitert. So liegt ein interessantes Bündel von Birkenzetteln vor, das einem Jungen namens Onfim gehörte. Er übte das Alphabet und die Silben; wenn ihm hingegen langweilig wurde, dann zeichnete er. Auf einer Birkenrinde hat der Junge etwa begonnen, das Alphabet auszuschreiben — dann hörte er jedoch auf, um ein Selbstporträt einzuritzen. Onfims Übungen belegen, dass nach einem Curriculum unterrichtet wurde, das ursprünglich aus dem griechischen Raum nach Nowgorod gekommen war.

Nach der Christianisierung der Kiewer Rus im Jahr 988 wurden in altostslawischer Sprache geschriebene christliche Bücher rasch verbreitet. Zwei bedeutende Fürsten der Kiewer Rus, Wladimir I. der Heilige und sein Sohn Jaroslaw der Weise, haben intensiv daran mitgewirkt, die Bevölkerung zu alphabetisieren. In Kiew beorderte Wladimir die Kinder der führenden Familien zu sich, um bei ihnen für eine Ausbildung in der ›Bücherweisheit‹ zu sorgen. Die Mütter dieser Kinder — so berichtet es eine Chronik — weinten und trauerten um sie wie um Verstorbene. Aber im Jahr 1030, als Jaroslaw nach Nowgorod zu Besuch kam, fand das Vorhaben größeren Anklang. Er ordnete an, dass 300 Kinder der Oberschicht sowie Popen (orthodoxe Priester) in der ›Bücherweisheit‹ ausgebildet werden sollten. Exakt in diese Zeit sind die ersten beschrifteten Birkenrinden zu datieren. Jaroslaws Idee, die Kinder seines Herrschaftsgebiets gleichsam einzuschulen, hat offenbar funktioniert!

Artikel als PDF

zur Autorin

Julia Lougovaya leitet das Teilprojekt A09 »Schreiben auf Ostraka im inneren und äußeren Mittelmeerraum« des SFB 933. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Alltagstexte aus dem antiken Mittelmeerraum sowie griechische Steininschriften.

Literatur

Gippius, Alexei A. (2012), »Birchbark Literacy and the Rise of Written Communication in Early Rus’«, in: Kristel Zilmer (Hg.), Epigraphic Literacy and Christian Identity: Modes of Written Discourse in the Newly Christian European North (Utrecht Studies in Medieval Literacy 4), 225–250.

Janin, Valentin L. (1995), »Novgoroder Birkenrindenurkunden«, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 41, 211–237.

Kempgen, Sebastian (2006), »Boris an Anastasija: Schick’ mir ein Unterhemd. Ein textlinguistisch-pragmatischer Zugang zu den Birkenrinden Nr. 43 und 49«, in: Bernhard Symanzik (Hg.), Studia Philologica Slavica (Festschrift für Gerhard Birkfellner zum 65. Geburtstag, Teilbd. 1), Berlin, 283–300.

Weitere Verweise

Datenbank publizierter Birkenrinden mit Bildern und Literatur (auf Russisch).

Foliensatz des Vortrags der Verfasserin während der Akademischen Mittagspause 2015 (via academia.edu).

Paul W. Goldschmidt stellt die Zeichnungen des Jungen Onfim vor (unter Pseudonym: Paul Wickenden of Thanet, Society for Creative Anachronism).

Berichte in der New York Times und der Neuen Züricher Zeitung.

Erklärvideo zur Geschichte der Kiever Rus (via khanacademy.com).

Knappe Beschreibung des Altostslawischen von der Universität Klagenfurt.

Das Kyrillische Alphabeth (mit Anfängersprachkurs online).