MTK & HCCH   |   Onlinepublikation
5300 Jahre Schrift
Universität Heidelberg: Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften
& Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH
MTK & HCCH | Onlinepublikation | 5300 Jahre Schrift
Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Materiale Textkulturen & Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH
 

Klingende Schrift

Paul Wranitzkys ›Friedenssinfonie‹ op. 31 und ihr Programm (1797)

von Adrian Kuhl  (Musikwissenschaft)

 
Auflistung der programmatischen Satzbezeichnungen von Paul Wranitzkys »Grande Sinfonie Caracteristique pour la paix avec la Republique Françoise« op. 31.

Teil des Stimmendrucks von I. C. Gombart et Comp. Augsburg. Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen. Datierung: 1797.

 
zum Autor

Adrian Kuhl ist Arbeitsstellenleiter der Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe an der Universität Frankfurt a. M., die von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften getragen wird. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Deutschsprachige Oper und das Singspiel sowie die Librettologie zwischen 1760–1840.

 

Artikel als PDF

Musik und Schrift können in vielerlei Verhältnisse zu einander treten — im Bereich der Einrichtungsformen von musikalischer Notation oder im Bereich der Vokalmusik, wenn geschriebene Sprache vertont wird. Musik und verschriftlichter Text kommen aber auch bei programmatischer Instrumentalmusik zusammen, wenn Musik also zur Darstellung außermusikalischer Inhalte genutzt wird, die dem Hörer durch Satzüberschriften oder Programmzettel mitgeteilt werden. Dabei ist in zeitgenössischer Sicht der Konzertzettel und damit das geschriebene Wort ein zentraler Bestandteil für das Verständnis solcher Kompositionen. Dies gilt in besonderer Weise für Paul Wranitzkys »Grande Sinfonie Caracteristique pour la paix avec la Republique Françoise« [sic], op. 31.

Wranitzky (1756–1808) — ein heute weitgehend vergessener Komponist — gehörte zu Lebzeiten zu den wichtigsten Musikern in Wien und wirkte auch am Kaiserhof. Obwohl man seine Werke dort schätzte, verbot Franz II. die Uraufführung der Sinfonie bei der Wiener Tonkünstler-Societät. Der Grund dafür lag im Titel sowie vermutlich auch im zugrundeliegenden Programm, das sich in den Werkdrucken auf Deutsch und Französisch findet:

1. Satz:»Die Revolution — Engl[ischer] Marsch — Oestereichisch- und Preusischer Marsch«

2. Satz:»Das Schicksal und der Tod Ludwigs — Ein Trauer Marsch«

3. Satz:»Der Englische Marsch — Marsch der Alliirten — Das Getümmel einer Schlacht«

4. Satz:»Die Friedens Unterhandlungen — Der Jubel über die Herstellung des Friedens«

(zitiert nach dem Stimmendruck von Gombart 1797)

Durch die Satzüberschriften sowie den Untertitel der Sinfonie dürfte den Zeitgenossen sofort deutlich gewesen sein, worauf Wranitzky anspielte, was auch das kaiserliche Veto erklärt. Die Sinfonie lässt den I. Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich Revue passieren, der 1792 begonnen hatte und wenige Monate vor der geplanten Aufführung der Sinfonie zu Ende gegangen war. Österreich musste einen Frieden mit Napoleon schließen, der größere Gebietsverluste für Österreich bedeutete — also kein Ereignis war, an das sich Franz II. gerne erinnert haben dürfte.

Das Programm, das bei Konzerten wie üblich als Zettel verteilt worden sein dürfte, bestimmt die Sinfonie in vielerlei Hinsicht. So legt Wranitzky dem Werk zwar das damals erwartete Formschema einer Sinfonie zu Grunde, doch fällt der 3. Satz heraus: Hier sieht der Komponist zwei Militärmärsche und eine lautmalerisch gestaltete Schlachtendarstellung vor, nicht aber das traditionelle Menuett. Ähnlich dem Programm verpflichtet ist der 1. Satz. Traditionell wird eine Sinfonie dieser Zeit mit einem Kopfsatz in Sonatenform eröffnet, also mit langsamer Einleitung und den Formteilen Exposition, Durchführung, Reprise und Coda. Wranitzkys mit »Revolution« überschriebener 1. Satz zeigt sich diesem Modell verpflichtet, bricht die Form aber auf. So interpoliert der Komponist jeweils am Ende von Exposition und Durchführung zwei Militärmärsche — zunächst den »Englischen«, später den »Österreichisch- und Preußischen Marsch«. In der stark verkürzten Reprise fehlt der »Englische Marsch« dann jedoch wieder. Ist damit bereits der formale Ablauf des Satzes aus den Fugen geraten, zeigt sich Vergleichbares auch auf der Detail­ebene. Das erste Thema des Satzes präsentiert sich zum Beispiel als ungewöhnliches Kon­strukt. So schreibt Wranitzky gleich zwei viertaktige Phrasen, die melodisch und harmonisch jeweils wie ein eigenes Thema aufgebaut sind, aber völlig unterschiedliches Tonmaterial präsentieren. Wäre dies zwar eine kleingliedrige, aber noch zu vertretende Satzeröffnung, so nutzt der Komponist diese besondere Themenanlage, um am Beginn der Reprise Konfusion zu stiften. Üblicherweise beginnt die Reprise mit dem Aufgriff des ersten Themas, um dem Hörer den Anfang des neuen Formteils zu verdeutlichen. Bei Wranitzky erklingt allerdings nicht der erste Viertakter der Exposition, sondern gleich der zweite, so dass in der Rückschau das erste Thema des Satzes und damit ein wesentlicher Formbestandteil unklar bleibt. Auch hier ist die formale Ordnung auf musikalischer Ebene also empfindlich gestört.

Bringt man das der Sinfonie vorangestellte Programm mit der musikalischen Gestaltung zusammen, so zeigt sich, wie stark die musikalische Faktur vom einleitenden Text bestimmt wird. Zum einen thematisiert Wranitzky in den Sätzen verschiedene Etappen des Koalitionskrieges und ihre Hauptakteure, stellt zugleich aber sowohl auf großformaler als auch auf Detailebene dar, was die französische Revolution und die anhängenden politischen Ereignisse aus österreichischer Sicht bedeutet haben: eine Störung der althergebrachten Ordnung, wie am 3. Satz und am formal ungewöhnlichen 1. Satz deutlich wird. Es ist daher bezeichnend, dass im Finale die Erwartungshaltung an eine sinfonische Struktur klar erfüllt wird. Nach dem einleitenden Abschnitt der Friedensunterhandlungen folgt ein demonstrativ regelgerecht komponierter Sonatensatz. Die Ordnung, so der musikalische Eindruck, ist erst durch den Frieden wiederhergestellt.

Löst man die Sinfonie jedoch von der programmatischen Idee, so würde sie lediglich als hybrides, formal unschlüssiges Werk erscheinen — das vorangestellte Programm wird also zum Schlüssel für das Verständnis des Werks in seiner spezifischen musikalischen Ausgestaltung. Da der programmatische Inhalt der Komposition aber nicht ausgesprochen, sondern nur gelesen wird, kommt der einleitenden Programmschrift als Schriftsatz elementare Bedeutung zu und zeigt, wie eng das Verhältnis von Schrift und Vertonung auch bei Instrumentalmusik sein kann.

 

 
Literatur

De Ruiter, Jacob (1989), Der Charakterbegriff in der Musik. Studien zur deutschen Ästhetik der Instrumentalmusik 1740–1850 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 29), Stuttgart.

Will, Richard (2002), The Characteristic Symphony in the Age of Haydn and Beethoven, Cambridge.

Wyn Jones, David (2006), »The Symphony in Beethoven’s Vienna«, in: Journal for Eighteenth-Century Studies 33 (1), 127–131.

Weitere Verweise

Stimmdruck von Paul Wranitzkys "Grande Sinfonie Caracteristique pour la paix avec la Republique Françoise, op. 31" (Digitalisat via Universitätsbibliothek Tübingen, urn:nbn:de:bsz:21-dt-27604).

Moderne Edition (Empfehlung des Verfassers): Paul Wranitzky, Grande sinfonie caractéristique pour la paix avec la République française c-moll op. 31, hrsg. von Bernd Hagels, Berlin: Ries und Erler 2003. (via searchworks.stanford.edu)

CD-Einspielung (Empfehlung des Verfassers): Paul Wranitzky, Symphonies opp. 31 & 52, NDR Radiophilharmonie Hannover, Howard Griffiths, CPO 3493380 (Besprechung bei klassik-heute.com).

Aufnahme als Video (Diregent: Jiří Habart).

Abbildungshinweis

Titelbild: Universitätsbibliothek Tübingen, http://idb.ub.uni-tuebingen.de/diglit/Mk90_W22/0003.

 
  Wunderhorn Verlag Sonderforschungsbereich Materiale Textkulturen der Deutschen Forschungsgemeinschaft Universität Heidelberg  

Klingende Schrift

Paul Wranitzkys ›Friedenssinfonie‹ op. 31 und ihr Programm (1797)

von Adrian Kuhl  (Musikwissenschaft)

Auflistung der programmatischen Satzbezeichnungen von Paul Wranitzkys »Grande Sinfonie Caracteristique pour la paix avec la Republique Françoise« op. 31.

Teil des Stimmendrucks von I. C. Gombart et Comp. Augsburg. Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen. Datierung: 1797.

Titelbild: Universitätsbibliothek Tübingen, http://idb.ub.uni-tuebingen.de/diglit/Mk90_W22/0003.

Musik und Schrift können in vielerlei Verhältnisse zu einander treten — im Bereich der Einrichtungsformen von musikalischer Notation oder im Bereich der Vokalmusik, wenn geschriebene Sprache vertont wird. Musik und verschriftlichter Text kommen aber auch bei programmatischer Instrumentalmusik zusammen, wenn Musik also zur Darstellung außermusikalischer Inhalte genutzt wird, die dem Hörer durch Satzüberschriften oder Programmzettel mitgeteilt werden. Dabei ist in zeitgenössischer Sicht der Konzertzettel und damit das geschriebene Wort ein zentraler Bestandteil für das Verständnis solcher Kompositionen. Dies gilt in besonderer Weise für Paul Wranitzkys »Grande Sinfonie Caracteristique pour la paix avec la Republique Françoise« [sic], op. 31.

Wranitzky (1756–1808) — ein heute weitgehend vergessener Komponist — gehörte zu Lebzeiten zu den wichtigsten Musikern in Wien und wirkte auch am Kaiserhof. Obwohl man seine Werke dort schätzte, verbot Franz II. die Uraufführung der Sinfonie bei der Wiener Tonkünstler-Societät. Der Grund dafür lag im Titel sowie vermutlich auch im zugrundeliegenden Programm, das sich in den Werkdrucken auf Deutsch und Französisch findet:

1. Satz:»Die Revolution — Engl[ischer] Marsch — Oestereichisch- und Preusischer Marsch«

2. Satz:»Das Schicksal und der Tod Ludwigs — Ein Trauer Marsch«

3. Satz:»Der Englische Marsch — Marsch der Alliirten — Das Getümmel einer Schlacht«

4. Satz:»Die Friedens Unterhandlungen — Der Jubel über die Herstellung des Friedens«

(zitiert nach dem Stimmendruck von Gombart 1797)

Durch die Satzüberschriften sowie den Untertitel der Sinfonie dürfte den Zeitgenossen sofort deutlich gewesen sein, worauf Wranitzky anspielte, was auch das kaiserliche Veto erklärt. Die Sinfonie lässt den I. Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich Revue passieren, der 1792 begonnen hatte und wenige Monate vor der geplanten Aufführung der Sinfonie zu Ende gegangen war. Österreich musste einen Frieden mit Napoleon schließen, der größere Gebietsverluste für Österreich bedeutete — also kein Ereignis war, an das sich Franz II. gerne erinnert haben dürfte.

Das Programm, das bei Konzerten wie üblich als Zettel verteilt worden sein dürfte, bestimmt die Sinfonie in vielerlei Hinsicht. So legt Wranitzky dem Werk zwar das damals erwartete Formschema einer Sinfonie zu Grunde, doch fällt der 3. Satz heraus: Hier sieht der Komponist zwei Militärmärsche und eine lautmalerisch gestaltete Schlachtendarstellung vor, nicht aber das traditionelle Menuett. Ähnlich dem Programm verpflichtet ist der 1. Satz. Traditionell wird eine Sinfonie dieser Zeit mit einem Kopfsatz in Sonatenform eröffnet, also mit langsamer Einleitung und den Formteilen Exposition, Durchführung, Reprise und Coda. Wranitzkys mit »Revolution« überschriebener 1. Satz zeigt sich diesem Modell verpflichtet, bricht die Form aber auf. So interpoliert der Komponist jeweils am Ende von Exposition und Durchführung zwei Militärmärsche — zunächst den »Englischen«, später den »Österreichisch- und Preußischen Marsch«. In der stark verkürzten Reprise fehlt der »Englische Marsch« dann jedoch wieder. Ist damit bereits der formale Ablauf des Satzes aus den Fugen geraten, zeigt sich Vergleichbares auch auf der Detail­ebene. Das erste Thema des Satzes präsentiert sich zum Beispiel als ungewöhnliches Kon­strukt. So schreibt Wranitzky gleich zwei viertaktige Phrasen, die melodisch und harmonisch jeweils wie ein eigenes Thema aufgebaut sind, aber völlig unterschiedliches Tonmaterial präsentieren. Wäre dies zwar eine kleingliedrige, aber noch zu vertretende Satzeröffnung, so nutzt der Komponist diese besondere Themenanlage, um am Beginn der Reprise Konfusion zu stiften. Üblicherweise beginnt die Reprise mit dem Aufgriff des ersten Themas, um dem Hörer den Anfang des neuen Formteils zu verdeutlichen. Bei Wranitzky erklingt allerdings nicht der erste Viertakter der Exposition, sondern gleich der zweite, so dass in der Rückschau das erste Thema des Satzes und damit ein wesentlicher Formbestandteil unklar bleibt. Auch hier ist die formale Ordnung auf musikalischer Ebene also empfindlich gestört.

Bringt man das der Sinfonie vorangestellte Programm mit der musikalischen Gestaltung zusammen, so zeigt sich, wie stark die musikalische Faktur vom einleitenden Text bestimmt wird. Zum einen thematisiert Wranitzky in den Sätzen verschiedene Etappen des Koalitionskrieges und ihre Hauptakteure, stellt zugleich aber sowohl auf großformaler als auch auf Detailebene dar, was die französische Revolution und die anhängenden politischen Ereignisse aus österreichischer Sicht bedeutet haben: eine Störung der althergebrachten Ordnung, wie am 3. Satz und am formal ungewöhnlichen 1. Satz deutlich wird. Es ist daher bezeichnend, dass im Finale die Erwartungshaltung an eine sinfonische Struktur klar erfüllt wird. Nach dem einleitenden Abschnitt der Friedensunterhandlungen folgt ein demonstrativ regelgerecht komponierter Sonatensatz. Die Ordnung, so der musikalische Eindruck, ist erst durch den Frieden wiederhergestellt.

Löst man die Sinfonie jedoch von der programmatischen Idee, so würde sie lediglich als hybrides, formal unschlüssiges Werk erscheinen — das vorangestellte Programm wird also zum Schlüssel für das Verständnis des Werks in seiner spezifischen musikalischen Ausgestaltung. Da der programmatische Inhalt der Komposition aber nicht ausgesprochen, sondern nur gelesen wird, kommt der einleitenden Programmschrift als Schriftsatz elementare Bedeutung zu und zeigt, wie eng das Verhältnis von Schrift und Vertonung auch bei Instrumentalmusik sein kann.

Artikel als PDF

zum Autor

Adrian Kuhl ist Arbeitsstellenleiter der Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe an der Universität Frankfurt a. M., die von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften getragen wird. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Deutschsprachige Oper und das Singspiel sowie die Librettologie zwischen 1760–1840.

Literatur

De Ruiter, Jacob (1989), Der Charakterbegriff in der Musik. Studien zur deutschen Ästhetik der Instrumentalmusik 1740–1850 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 29), Stuttgart.

Will, Richard (2002), The Characteristic Symphony in the Age of Haydn and Beethoven, Cambridge.

Wyn Jones, David (2006), »The Symphony in Beethoven’s Vienna«, in: Journal for Eighteenth-Century Studies 33 (1), 127–131.

Weitere Verweise

Stimmdruck von Paul Wranitzkys "Grande Sinfonie Caracteristique pour la paix avec la Republique Françoise, op. 31" (Digitalisat via Universitätsbibliothek Tübingen, urn:nbn:de:bsz:21-dt-27604).

Moderne Edition (Empfehlung des Verfassers): Paul Wranitzky, Grande sinfonie caractéristique pour la paix avec la République française c-moll op. 31, hrsg. von Bernd Hagels, Berlin: Ries und Erler 2003. (via searchworks.stanford.edu)

CD-Einspielung (Empfehlung des Verfassers): Paul Wranitzky, Symphonies opp. 31 & 52, NDR Radiophilharmonie Hannover, Howard Griffiths, CPO 3493380 (Besprechung bei klassik-heute.com).

Aufnahme als Video (Diregent: Jiří Habart).