MTK & HCCH   |   Onlinepublikation
5300 Jahre Schrift
Universität Heidelberg: Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften
& Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH
MTK & HCCH | Onlinepublikation | 5300 Jahre Schrift
Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Materiale Textkulturen & Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH
 

»Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig«

Vom Nutzen und Nachteil der Schrift für Poesie und Musik (1866/67)

von Dieter Borchmeyer  (Germanistik)

 
Richard  Wagner, »Die Meistersinger von Nürnberg«

3. Aufzug, 5. Szene (S. 435), autographe Partitur (Höhe: 34 cm, Breite: 27 cm, Tinte auf Papier). Entstanden in Genf und Tribschen. Heute in der Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums, Musikhandschriften (Hs 102655). Datierung: 1866/1867.

 
zum Autor

Dieter Borchmeyer ist Professor emeritus für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Heidelberg und Präsident a. D. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Weimarer Klassik und das  Werk Richard Wagners.

 

Artikel als PDF

Zu den großen Vorurteilen der abendländischen Kultur gehört Jacques Derridas »Grammatologie« (1967) zufolge der ›Phonozentrismus‹, der die Stimme vor dem Buchstaben privilegiert und die Schrift zu einer die Sinnfülle des lebendigen Worts einengenden Äußerlichkeit herabsetzt. Eine Tendenz von weitreichender Konsequenz nicht nur für das Wort, sondern mehr noch für den Ton, nicht nur für die Sprach-, sondern erst recht für die Notenschrift. Derridas Opposition gegen den Phonozentrismus steht in einer Verbindung zur rabbinischen Tradition, welche das schriftlich niedergelegte Gesetz (die Thora) gegenüber der mündlichen Überlieferung des göttlichen Worts als verbindlich ansah — in entschiedenem Gegensatz auch und vor allem zum paulinischen Christentum, das den toten Buchstaben des Gesetzes gegenüber dem lebendigen Geist, dem in Jesus Christus Fleisch gewordenen göttlichen ›Logos‹, diskreditiert: »Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.« (2. Kor. 3,6).

Freilich besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Buchstaben- und Notenschrift. Diese erhebt anders als jene nicht den Anspruch, ein autarkes Medium zu sein. Was die aufgeschriebene Musik von der aufgeschriebenen Sprache sowie von den anderen Künsten unterscheidet, ist die Differenz zwischen produktiver Fixierung und Reproduktion des Fixierten. »Musik bedarf der Interpretation«, betont Theodor W. Adorno immer wieder in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen »Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion« (Adorno 2001, 105). Die Crux der Notation, der ›Aufschreibesysteme‹, dass diese — ob in der Musik oder in der Poesie — das ›Sinn‹-Potential des intendierten Werks nicht voll zu erfassen vermögen, hat kaum jemand so variantenreich theoretisch — in seinen »Meistersingern« aber auch musikdramatisch — umkreist wie Richard Wagner, der größte Phonozentriker der Kulturgeschichte. In seinen späten Schriften hat er durch seine Theorie der Improvisation der einseitigen Schrift- und Notationskultur der Moderne das Wasser abzugraben versucht.

Im Mai 1871 erlebt Wagner an der Alten Brücke in Heidelberg eine Kasperltheatervorstellung, von der er in seinem Aufsatz »Über Schauspieler und Sänger« (1872) schreibt: hier sei ihm »seit undenklichen Zeiten der Geist des Theaters zuerst wieder lebendig« aufgegangen. »Hier war der Improvisator Dichter, Theaterdirektor und Acteur zugleich« (Gesammelte Schriften, Bd. 9, S. 182) — womit er auf den Theaterprolog von Goethes »Faust« anspielt. Das »Kunstwerk der Zukunft« soll nun das Außerordentliche leisten: die Verschmelzung der musikalischen mit der mimisch-dramatischen Improvisation. Das »von uns in Aussicht genommene Kunstwerk« wird im Aufsatz »Über die Bestimmung der Oper« definiert als »durch die höchste künstlerische Besonnenheit fixirte mimisch-musikalische Improvisation von vollendetem dichterischen Werthe« (ebd., S. 149f.). Die fixierte Improvisation ist freilich ein Paradox. Echte Improvisation ist im musikalischen Drama natürlich weithin ausgeschlossen. Auf der Handlungsebene aber wird sie bei Wagner durchaus fingiert: Die Genese von Walthers von Stolzing Preislied in »Die Meistersinger von Nürnberg« nämlich ist eine fast getreue Veranschaulichung der in den Jahren nach der Uraufführung der »Meistersinger« konzipierten Improvisationstheorie Wagners. Die Kunst der historischen Meistersinger ist für ihn absolute Schriftkultur. Walther von Stolzing bricht nun mit seinem rein improvisatorischen Gesang, der ohne jede notierte Vorlage völlig aus dem Augenblick, dem unmittelbaren Anlass geschöpft ist, anarchisch in die festgefügte Welt der meistersingerlichen ›Leges Tabulaturae‹ ein.

Walthers Preislied ist die ästhetische Utopie einer Gesangskunst, ein ›Kunstwerk der Zukunft‹ ohne Partitur und Textbuch. Freilich lässt sich nicht verkennen, dass dieses Preislied eben doch eine schriftliche Fixierung hinter sich hat: das, was Wagner später fixierte Improvisation nennen wird. Sein Probelied im ersten Aufzug war noch völlig freie Phantasie, der das Moment der Wagner so wichtigen ›höchsten künstlerischen Besonnenheit‹ noch fehlte. Zu dieser Besonnenheit sucht Hans Sachs Walther in seiner poetischen Lektion im dritten Aufzug hinzulenken. Denn er weiß, dass aus der schroffen Antithese von schriftlich fixierten Zunftregeln und freier Improvisation kein Weg in die Zukunft führt. Zwischen beiden gilt es zu vermitteln.

Das Wechselspiel von subjektiver und schriftlich objektivierter Form, der Wandel von der freien über die fixierte zu neuer Improvisation, welche die Konvention durchbricht und doch nicht beleidigt, der so geglückte Ausgleich zwischen dem Alten Testament des auf Schrifttafeln festgehaltenen Gesetzes und dem Neuen Testament der ins Herz geschriebenen und sich aus ihm heraus mündlich bekundenden Kunst, zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort, notiertem und phantasiertem Gesang: das ist Wagners ästhetisches Ideal, das für ihn den utopischen Endpunkt der Kunstentwicklung bildet: die Aufhebung der Schriftkultur in einer neuen Kultur der Oralität.

 

 
Literatur

Adorno, Theodor W. (2001), Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, hg. von Henri Lonitz, Frankfurt a. M.

Assmann, Aleida (2008), »Zwischen Kälte- und Hitzetod. Die Meistersinger von Nürnberg als Meta-Oper«, in: Robert Sollich et al. (Hgg.): Angst vor der Zerstörung. Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung, Berlin, 29–45.

Borchmeyer, Dieter (2007), »Aufhebung der Schrift – Über Geist und Buchstabe in Wagners Meistersingern«, in: Bayreuther Festspiele 2007 (Festspielbuch), 40–77.

Borchmeyer, Dieter (1982), Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung, Stuttgart.

Derrida, Jacques (1974), Grammatologie, Frankfurt a. M.

Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 749), Frankfurt a. M., 191–218 (»Derridas Kritik am Phonozentrismus«).

Wagner, Richard (1873), Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 9, Leipzig.

Weitere Verweise

Video des Vortrags: http://www.5300jahreschrift.de/videos/borchmeyer.html

Webseite des Germanischen Nationalmuseums zur Meistersinger-Ausstellung (mit Digitalisat der autographen Partitur).

Richard Wagners "Über Schauspieler und Sänger" (Digitalisat via archive.org).

Abbildungshinweis

Titelbild: Hs 102655 © Germanisches Nationalmuseum.

 
  Wunderhorn Verlag Sonderforschungsbereich Materiale Textkulturen der Deutschen Forschungsgemeinschaft Universität Heidelberg  

»Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig«

Vom Nutzen und Nachteil der Schrift für Poesie und Musik (1866/67)

von Dieter Borchmeyer  (Germanistik)

Richard  Wagner, »Die Meistersinger von Nürnberg«

3. Aufzug, 5. Szene (S. 435), autographe Partitur (Höhe: 34 cm, Breite: 27 cm, Tinte auf Papier). Entstanden in Genf und Tribschen. Heute in der Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums, Musikhandschriften (Hs 102655). Datierung: 1866/1867.

Titelbild: Hs 102655 © Germanisches Nationalmuseum.

Zu den großen Vorurteilen der abendländischen Kultur gehört Jacques Derridas »Grammatologie« (1967) zufolge der ›Phonozentrismus‹, der die Stimme vor dem Buchstaben privilegiert und die Schrift zu einer die Sinnfülle des lebendigen Worts einengenden Äußerlichkeit herabsetzt. Eine Tendenz von weitreichender Konsequenz nicht nur für das Wort, sondern mehr noch für den Ton, nicht nur für die Sprach-, sondern erst recht für die Notenschrift. Derridas Opposition gegen den Phonozentrismus steht in einer Verbindung zur rabbinischen Tradition, welche das schriftlich niedergelegte Gesetz (die Thora) gegenüber der mündlichen Überlieferung des göttlichen Worts als verbindlich ansah — in entschiedenem Gegensatz auch und vor allem zum paulinischen Christentum, das den toten Buchstaben des Gesetzes gegenüber dem lebendigen Geist, dem in Jesus Christus Fleisch gewordenen göttlichen ›Logos‹, diskreditiert: »Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.« (2. Kor. 3,6).

Freilich besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Buchstaben- und Notenschrift. Diese erhebt anders als jene nicht den Anspruch, ein autarkes Medium zu sein. Was die aufgeschriebene Musik von der aufgeschriebenen Sprache sowie von den anderen Künsten unterscheidet, ist die Differenz zwischen produktiver Fixierung und Reproduktion des Fixierten. »Musik bedarf der Interpretation«, betont Theodor W. Adorno immer wieder in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen »Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion« (Adorno 2001, 105). Die Crux der Notation, der ›Aufschreibesysteme‹, dass diese — ob in der Musik oder in der Poesie — das ›Sinn‹-Potential des intendierten Werks nicht voll zu erfassen vermögen, hat kaum jemand so variantenreich theoretisch — in seinen »Meistersingern« aber auch musikdramatisch — umkreist wie Richard Wagner, der größte Phonozentriker der Kulturgeschichte. In seinen späten Schriften hat er durch seine Theorie der Improvisation der einseitigen Schrift- und Notationskultur der Moderne das Wasser abzugraben versucht.

Im Mai 1871 erlebt Wagner an der Alten Brücke in Heidelberg eine Kasperltheatervorstellung, von der er in seinem Aufsatz »Über Schauspieler und Sänger« (1872) schreibt: hier sei ihm »seit undenklichen Zeiten der Geist des Theaters zuerst wieder lebendig« aufgegangen. »Hier war der Improvisator Dichter, Theaterdirektor und Acteur zugleich« (Gesammelte Schriften, Bd. 9, S. 182) — womit er auf den Theaterprolog von Goethes »Faust« anspielt. Das »Kunstwerk der Zukunft« soll nun das Außerordentliche leisten: die Verschmelzung der musikalischen mit der mimisch-dramatischen Improvisation. Das »von uns in Aussicht genommene Kunstwerk« wird im Aufsatz »Über die Bestimmung der Oper« definiert als »durch die höchste künstlerische Besonnenheit fixirte mimisch-musikalische Improvisation von vollendetem dichterischen Werthe« (ebd., S. 149f.). Die fixierte Improvisation ist freilich ein Paradox. Echte Improvisation ist im musikalischen Drama natürlich weithin ausgeschlossen. Auf der Handlungsebene aber wird sie bei Wagner durchaus fingiert: Die Genese von Walthers von Stolzing Preislied in »Die Meistersinger von Nürnberg« nämlich ist eine fast getreue Veranschaulichung der in den Jahren nach der Uraufführung der »Meistersinger« konzipierten Improvisationstheorie Wagners. Die Kunst der historischen Meistersinger ist für ihn absolute Schriftkultur. Walther von Stolzing bricht nun mit seinem rein improvisatorischen Gesang, der ohne jede notierte Vorlage völlig aus dem Augenblick, dem unmittelbaren Anlass geschöpft ist, anarchisch in die festgefügte Welt der meistersingerlichen ›Leges Tabulaturae‹ ein.

Walthers Preislied ist die ästhetische Utopie einer Gesangskunst, ein ›Kunstwerk der Zukunft‹ ohne Partitur und Textbuch. Freilich lässt sich nicht verkennen, dass dieses Preislied eben doch eine schriftliche Fixierung hinter sich hat: das, was Wagner später fixierte Improvisation nennen wird. Sein Probelied im ersten Aufzug war noch völlig freie Phantasie, der das Moment der Wagner so wichtigen ›höchsten künstlerischen Besonnenheit‹ noch fehlte. Zu dieser Besonnenheit sucht Hans Sachs Walther in seiner poetischen Lektion im dritten Aufzug hinzulenken. Denn er weiß, dass aus der schroffen Antithese von schriftlich fixierten Zunftregeln und freier Improvisation kein Weg in die Zukunft führt. Zwischen beiden gilt es zu vermitteln.

Das Wechselspiel von subjektiver und schriftlich objektivierter Form, der Wandel von der freien über die fixierte zu neuer Improvisation, welche die Konvention durchbricht und doch nicht beleidigt, der so geglückte Ausgleich zwischen dem Alten Testament des auf Schrifttafeln festgehaltenen Gesetzes und dem Neuen Testament der ins Herz geschriebenen und sich aus ihm heraus mündlich bekundenden Kunst, zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort, notiertem und phantasiertem Gesang: das ist Wagners ästhetisches Ideal, das für ihn den utopischen Endpunkt der Kunstentwicklung bildet: die Aufhebung der Schriftkultur in einer neuen Kultur der Oralität.

Artikel als PDF

zum Autor

Dieter Borchmeyer ist Professor emeritus für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Heidelberg und Präsident a. D. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Weimarer Klassik und das  Werk Richard Wagners.

Literatur

Adorno, Theodor W. (2001), Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, hg. von Henri Lonitz, Frankfurt a. M.

Assmann, Aleida (2008), »Zwischen Kälte- und Hitzetod. Die Meistersinger von Nürnberg als Meta-Oper«, in: Robert Sollich et al. (Hgg.): Angst vor der Zerstörung. Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung, Berlin, 29–45.

Borchmeyer, Dieter (2007), »Aufhebung der Schrift – Über Geist und Buchstabe in Wagners Meistersingern«, in: Bayreuther Festspiele 2007 (Festspielbuch), 40–77.

Borchmeyer, Dieter (1982), Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung, Stuttgart.

Derrida, Jacques (1974), Grammatologie, Frankfurt a. M.

Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 749), Frankfurt a. M., 191–218 (»Derridas Kritik am Phonozentrismus«).

Wagner, Richard (1873), Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 9, Leipzig.

Weitere Verweise

Video des Vortrags: http://www.5300jahreschrift.de/videos/borchmeyer.html

Webseite des Germanischen Nationalmuseums zur Meistersinger-Ausstellung (mit Digitalisat der autographen Partitur).

Richard Wagners "Über Schauspieler und Sänger" (Digitalisat via archive.org).